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— Text in Arbeit, wir bitten um etwas Geduld —
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Missbrauchsprävention und Missbrauchsaufarbeitung jetzt endlich auch in der deutschen Pfadfinder- und Jugendbewegung
Beim Lesen von: Ohne vorgehaltene Hand. Netzwerke sexuellen Missbrauchs in der deutschen Pfadfinder und Jugendbewegung (Almut Heimbach). Über das jüngste und wohl wichtigste Buch zum Thema deutsche Pfadfinder- und Jugendbewegung denkt Edward von Roy.
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Die aber auch, lautet der altbekannte, kläglich untaugliche Abwehrreflex, die da drüben haben aber ebenfalls schlimme Sachen gemacht. Gewiss, es gab die große US-amerikanische Organisation Boy Scouts of America, die viele, viele Missbrauchstäter, einmal aufgeflogen, möglichst geräuschlos an einen anderen Ort versetzte und mit dortigen Minderjährigen weiterarbeiten ließ. Es gab die Katholische Kirche, die mit ihren vielen, als Missbrauchern aufgeflogenen Priestern jahrelang entsprechend verfuhr. Es gab die seit Gerold Becker durch Pädosexuelle unterwanderte Odenwaldschule (OSO), doch diese Täter, wie das heute betrachtete Buch gründlich herausarbeitet, waren nicht die sprichwörtlichen schlimmen Anderen, sondern zum Teil waschechte Jungenschafter wie Jürgen Kahle oder jedenfalls Bündische von der Waldeck, die, als OSO-Lehrer, ihre Schüler durchaus auch auf dem Gelände der ABW (Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck) missbrauchten. OvH arbeitet gründlich heraus, dass sich die ABW ihrer Geschichte als Täterumfeld und auch als Tatort nicht oder noch nicht ausreichend stellt.
Die da aber auch, das mag also stimmen, bleibt aber ein Ausweichen vor der seit Christian Füller (Die Revolution missbraucht ihre Kinder: Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen) endlich in das Blickfeld gerückten, beinahe prinzipiell oder systematisch zu nennenden sexualisierten Gewalt in der deutschen Pfadfinder- und Jugendbewegung.
Gleichwohl erscheint es sinnvoll, dass die Buchautorin am Rande auch auf einen französischen wie einen englischen Fall von Missbrauch hinweist, auf den Täter Leonide Kamenef, der mit dem Segelschiff Karrek Ven mit Kindern in der Karibik unterwegs war (Schule auf dem Boot, l’École en bateau) und als Täter überführt werden konnte zum einen, und andererseits auf die mir bis dahin unbekannten Tatsache, dass Colonel J. S. Wilson (John Skinner Wilson, 1888–1969) vor neun Dekaden nacheinander gleich zwei Platzwarte des für das weltweite Scouting (Pfadfinderbewegung) so relevanten Gilwell Park feuern musste.
Colonel Wilson handelte, beispielsweise 1930 unmittelbar nach seiner Rückkehr vom Jamboree im ungarischen Gödöllö, während in Deutschland ab etwa 1910 die dem Wandervogel entsprossene Jugendbewegung bzw. ab etwa 1925 die im Wesentlichen durch Pfadfinderbünde getragene Bündische Jugend hundert Jahre lang Missbrauchstäter in höchsten Positionen gewähren ließ, während sie, mit Zeitschriften, Fotos oder schönen Liedern garniert, pädoerotisch angewärmte bis aufgeheizte Gemütlichkeit pflegte und die entsprechenden Theoretiker, auch Maler und Fotografen, oder Praktiker, die Gewalttäter, als Gruppenleiter, Bundesführer, Burgvogt auf der Jugendburg oder als Schriftleiter einer überbündischen Zeitung beinahe wortlos zu dulden bereit war. Nicht ganz wortlos.
Hinter hervorgehaltener Hand wurde, vom Meer bis zum Alpenschnee, auf Großfahrten, Jugendburgen oder Singewettstreiten, getuschelt und geraunt, und dann und wann kam auch einmal ein Fall zur Anzeige und ging durch Gerichtssaal und Presse. Und wurde rasch wieder vergessen jedenfalls aus dem Raum des Besprechbaren verdrängt.
Dass dieselben Täter nicht selten Jahrzehnt für Jahrzehnt aktiv waren, entging freilich dem Bewusstsein oder vielmehr Unbewusstsein der meisten deutschen, die Bündische Sache bzw. den Wandervogel verehrenden Pfadfinder. Jedenfalls kam das, was zu sagen gewesen wäre, nicht vernunftgeleitet und verändertes Handeln fordend zur Sprache, und wenn doch, dann nicht öffentlich nachvollziehbar dokumentiert, sondern heimlich. Und ebenso frei wie verantwortungslos begab man sich auch mit Minderjährigen auf die nächste Wallfahrt auf die Hohlenfels (von spätestens 1961 bis 1978), auf den Balduinstein (ab 1974) oder, hier waren nicht die Veranstalter, sondern etliche Gäste das Problem, nach Ottenstein / Ahaus (1985 bis 2007 und 2010) geplant und durchgeführt werden, wo allüberall es in manchen Jahren von Missbrauchern nur so wimmelte. Überbündisch konnte man sich der Lagerfeuerromantik hingeben. Die singen doch so schön.
Endlich, das erwartete Paket ist da, man öffnet es und entnimmt ein üppiges schweres schönes Buch:
Almut Heimbach: Ohne vorgehaltene Hand. Netzwerke sexuellen Missbrauchs in der deutschen Pfadfinder und Jugendbewegung.
Ja, gering in Höhe und Breite, Format A 6, man hatte es schon vernommen und war durchaus besorgt: Ob das Format zu klein gewählt ist, das wichtige Buch dadurch vielleicht unhandlich dick, Schriftgröße oder Zeilenabstand vielleicht zu gering? Man blättert und atmet auf, eine bequeme Lesbarkeit ist gegeben. Auch ein stundenlanges Lesen im OvH (Ohne vorgehaltene Hand) ist möglich, und, das als Warnung, es werden viele Stunden, denn aus dem Weiterlesen kommt jedenfalls ein Kenner der meisten der aufgeführten Orte und Bünde und Täter schier nicht heraus. Die das Nebelschleier des Geraunes und Getuschels rational durchdrungen zu wissen, die hinter den Gerüchten oder auch heimlichen Wahrheiten stehenden Fakten endlich schwarz auf weiß zu lesen, ermöglicht Überblick und Ausblick auf Neues.
Als skeptischer Beobachter und auch begeisterter Teilnehmer der pfadfinderischen und jugendbewegt-bündischen Szene in den Jahren um das Meißnerfest 1988 will man einen Blick ins Inhaltsverzeichnis werfen, und ahnt schon, dort viele Personen auch dieser eigenen Zeit wiederzufinden. Man wird nicht enttäuscht und findet im Text dann auch chiffrierte Namen, kenntlich gemacht durch Kursivschrift und ein angefügtes Sternchen. Rasch zähle ich 19 dieser anonymisierten Personennamen und erkenne nach dem Lesen jeweils weniger Zeilen zwölf mir damals mehr oder weniger fern stehende, fragwürdige Herren.
Das Nebeneinander von Klarnamen und chiffrierten Namen stört beim Lesen im OvH keineswegs, und dem Leser, insbesondere sicherlich dem an Prävention interessierten heutigen jungen Gruppenleiter, könnte oder sollte es vielleicht weniger um das echte Gesicht des Täters gehen, der hoffentlich auf dem Zeltplatz nicht auftaucht, sondern um dessen Eingebettetsein im Vereinsleben und überbündischen Leben, um die Täter-Umfeld-Passung als Teil der Täterstrategie.
Die Buchform zu wählen (und keine Datenbank und schon gar keine Digitalversion) erscheint sinnvoll. Eine gewisse Anstrengung des Lesers kann erwartet werden, und die bei einer Papierversion gegebene Möglichkeit des Einlegens von auch mehreren Lesezeichen sowie Chance, das Buch jederzeit auf- oder zuzuschlagen, schafft Distanz bei dem schwierigen und für manchen Leser vielleicht schmerzhaften Thema sexuelle Belästigung bzw. sexueller Missbrauch. Die informativen Fußnoten und wichtigen Verweise ermöglichen dem besonders interessierten Leser guten und immer besseren Überblick, die Relation zwischen Text und Fußnotenteil ist zweckmäßig und gelungen.
Wie angenehm und ermutigend, im Inhaltsverzeichnis und natürlich im Buchtext etliche Namen sowie etliche Fahrtennamen unchiffriert zu lesen. Zur gebotenen Abkehr vom jahrzehntelang geübten überbündischen Einknicken und Tuscheln gehört, relevante Namen und Fahrtennamen klar auszusprechen, beispielsweise und vielleicht zuallererst, ohne länger vor Ehrfurcht zu erstarren, vom propädophilen Netzwerker Alexej Stachowitsch genannt Axi zu lesen und zu sprechen. (Nebenbei gesagt wirkt der alle paar Seiten angewendete Verzicht auf das Genitiv-S bei Fahrtennamen und Organisationsnamen sehr sinnvoll, eine gute Entscheidung der Autorin.)
Axi (* 10. Oktober 1918 in Stockholm; † 1. April 2013 in Limburg an der Lahn). Der, allerdings nur auf den ersten Blick, makellos erscheinende österreichische Soldat sowie deutsche Wehrmachtssoldat, österreichische Scout, deutsche Nerother, Pseudorussisch sprechende Pseudokosake, netzwerkstiftende Balduinsteiner und bundesgründende Phoenix. Der Verfasser von in einigen Pfadfinderkreisen vor 25 Jahren unkritisch häufig und unkritisch andächtig gesungenen Liedern wie Mein ganzes Leben sei ein Fahren, Der Geist ist müd, Einmal einfach loszusingen. Axi also, der Prediger des jugendbewegt-bündischen Idealismus, gilt einigen Gruppen innerhalb der traditionsbewussten Teile der österreichischen und deutschen Pfadfinderei als ebenso bedeutsam wie einigen Menschen im heutigen Bereich der Jugendbewegung bzw. Bündischen Jugend.
OvH allerdings gibt couragierten Menschen den Raum, über den realen und gar nicht so hehren Stachowitsch zu berichten, der nämlich, wie bereits vor 25 bis 30 Jahren hinter hervorgehaltener Hand geraunt wurde, ganz gern älteren Jungen und jungen Männern an und unter die Wäsche ging.
Der Meister der Knabenliebe pardon Nächstenliebe verwirklichte sich, er dachte an sich und es ging ihm darum, von Zeit zu Zeit einmal loszuspringen, in das volle Leben greifen, zu umarmen was gefällt, das machte ihm Freude (Buchtitel). Chronisch schielte der edel tuende Axi auf ewige 16 Jahre alte Beute, sein kumpelhafter Kamerad auf bleibende 14, eine Hohlenfelser und Balduinsteiner Arbeitsteilung, konkurrenzfrei, kollegial, kameradschaftlich? Wenn aller Idealismus seitens Axi nur Getue war, listiger Kulissenbau, schamlose Scharlatanerie?
Exkurs.
Oktober 2018, der Meister wäre hundert Jahre alt geworden und der heutige, einst durch Stachowitsch gegründete Verein Jungenbund Phoenix meint:
„Axi war (…), wie wir heute wissen und klar benennen müssen: ein Täter, der gegenüber Jugendlichen übergriffig geworden ist (…). Als Phoenix, Axis letzte und in ihrer Form dauerhafteste Gründung, haben wir uns in den vergangenen Jahren der Aufarbeitung der Schattenseiten unseres Bundesgründers gestellt. Ein vorläufiger Abschlussbericht ist in Arbeit und die Ergebnisse werden auch Niederschlag finden in den anstehenden Publikationen von Almut Heimbach und Sven Reiß. (…) wir stehen nun vor der Frage, wie wir in dieser Situation an Axi erinnern können. Zerfällt seine Lebensleistung angesichts seiner Schatten zu Staub? Sollten wir uns von ihm distanzieren, ihn aus dem Gedächtnis und der Legitimation unseres Bundes und des Bündischen tilgen, oder wäre das gerade zu einfach? Können wir uns noch kritisch-positiv auf ihn beziehen? (…) Wir glauben, dass nicht nur uns als Bund einige unserer formalen und strukturellen Grundlagen in schmerzhafter Weise fragwürdig, ja brüchig geworden sind. Wir werden daher in einen umfassenden und substanziellen Prozess der Selbstvergewisserung gehen. Das, was wir tun und wollen, müssen wir für uns heute neu und unmissverständlich formulieren. Dabei wird sich auch zeigen, inwieweit wir uns weiter auf Axi beziehen können und wollen.“
(Gedanken zu Axis 100. Geburtstag. Veröffentlicht auch auf scouting am 10.10.2018.)
Aber ja, tut endlich was. Warum sollte sich auch euer Phoenixverein denn nicht endlich von dem Grenzverletzer emanzipieren, distanzieren? Gar nichts wird geschehen! Der Jungenbund Phoenix wird sich weiter auf Axi beziehen, the show must go on.
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Ohne vorgehaltene Hand. Netzwerke sexuellen Missbrauchs in der deutschen Pfadfinder und Jugendbewegung. Mit einem derart unbestechlichen, zum eigenen Denken anregenden und die eigene Verantwortlichkeit einfordernden Kompass und Ratgeber hätte viel Leid verhindert werden können.
Mehr als 1200 Seiten, was für eine Leistung. Gut dass es Ohne vorgehaltene Hand gibt. Zum Glück für alle Kinder und zu einer guten Jugendbewegung und Jugendarbeit wird OvH wesentlich beitragen.
Das Buch kommt zur rechten Zeit und sollte auf keiner Stammesführerschulung fehlen.
Edward von Roy (ehemals VCP Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (Gau Nassau Oranien), vorab allerdings kurz gj graue jungenschaft)
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Zum Weiterlesen auf diesem Blog
[1] Kirchentag und RSW
[2] Cees zum System Balduinstein: Bündisch ist …
[3] Tahawi
[4] Jumana
[5] Kirchentag und FGM. Aus der Au
[6] Terre des Femmes, FGM. Genital autonom oder genital intakt. Zur deutsch-indonesischen Achse der Bewegung für die Straffreistellung einer europäischen männlichen und weiblichen Genitalbeschneidung.
[7] Terre des Femmes Schweiz sieht keinen Zusammenhang zwischen Islam und FGM
[8] MGM. Aischylos
[9] Petition Juni 2012
[10] Görner
[11] Voß
[12] KiKA Tahsin
[13] Kinderehen
[14] Richterinnenkopftuch
[15] Muslim Fashion
[16] KiKA Malvina
[17] Neudorf, Meißnerformel, AEMR
[18] Hoher Meißner und Islam
[19] Nicht der Islamismus, der Islam ist das Problem
[20] Ludwigstein. Braune Schatten
[22] Ludwigstein. Noch zu Rechte Bünde
[23] Über Hooligans und Moscheen
[24] VCP. 60 Jahre GNO
[25] Noch zum GNO
[26] DPSG und Islam
[27] Pfadfinder-Treffpunkt 1
[28] Pfadfinder-Treffpunkt 2
[29] Pfadfinder-Treffpunkt 3
[30] Männerblicke, Frauenkörper. Von Ümmühan Karagözlü (2008).
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